01.11.05Der PianistIn Linz gab es einmal einen Pianisten. Er war nicht besonders gut, daher spielte er auch in keinem berühmten Orchester. Es galt jedoch eine Zeitlang als äußerst schick, diesen Pianisten für private Gesellschaften zu buchen. Konzerte in kleinem Kreis, dazwischen Vorspeisen, Hauptgänge, Desserts und gesellschaftlicher Klatsch. Selbstverständlich haben die Damen der Gesellschaft ihre Kinder zu ihm in den Unterricht geschickt. So auch meine Mutter. Meine erste Klavierstunde war bereits äußerst effizient. Da wurde nicht gefackelt mit langen Begrüßungen. Ich konnte mir noch nicht mal meinen Mantel ausziehen, so schnell hat er mich ans Klavier gejagt. Der Unterricht bei diesem Pianisten war sehr anspruchsvoll. Weil eigentlich war er Künstler und kein Lehrer, daher litt er richtiggehend unter den falschen Tönen seiner Schüler. Jeden Dienstag um 14:00 war Klavierstunde. Und jeden Dienstag überlegte ich mir, mit wem ich mein Schicksal tauschen würde, zumindest für ein paar Tage, um dem Schicksal der Klavierstunde zu entgehen. Keiner wollte mit mir tauschen. Aber dafür habe ich viel gelernt. Neben der Resistenz gegen Hitze zum Beispiel maximale Reaktionsfähigkeit. Und stoisches Ertragen ekelhafter Situationen. Mein Rekord? Eine Stunde fremden Mittagsrest am Finger ohne mit der Wimper zu zucken. Ein einziges Mal war der Unterricht so richtig interessant. Da hat er seinen Partner dagehabt, einen tätowierten Zigeuner mit Ohrring, der singende Säge spielen konnte. Den Gesellschaftsdamen hat das weniger gefallen. Ich glaube, das war der ausschlaggebende Grund, warum meine Mutter mich dann wieder rausgenommen hat aus diesem Unterricht. Eines muß ich jedoch feststellen. Ich habe mein ganzes Leben nie mehr soviel gelernt am Klavier wie in diesen beiden Jahren beim Pianisten.
Posted by L9 at 04:00
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