23.11.03

Jetzt kennt mi kana mehr

Wir nannten ihn den „verrückten Christian“. Er gehörte zu den Personen, die immer wieder in unserer WG in der Glockengasse in Wien auftauchten, einige Zeit bei uns verbrachten, und dann wieder verschwanden. Wer ihn als erstes eingeladen oder mitgenommen hatte, wussten wir nicht. Es war auch nicht interessant. Wir wussten auch nicht, welche Krankheit er genau hatte. Er war einfach etwas verdreht, nicht sonderlich intelligent, und musste oft nach Steinhof, ins psychiatrische Krankenhaus der Stadt Wien. Manchmal rief seine Mutter bei uns an. Sie war froh, dass er eine Art Familie hatte, wo er ab und zu sein konnte. Wir waren allerdings alles andere als eine Familie – schon gar nicht für einen Jungen, der Probleme hatte. Wir waren ein Haufen chaotischer junger Leute, die sich wilde Klamotten anzogen, die Haare bunt färbten, und die Freiheit der ersten Jahre außerhalb des Elternhauses genossen. Wir probierten all das aus, wovor uns die Erwachsenenwelt immer gewarnt hatte. Wir waren verantwortungslos und hassten alles, was den Anschein von Regelmäßigkeit und Spießertum hatte.

Christian hasste Steinhof und mochte Leute wie uns.

Seine Besuche waren immer von einer gewissen Hektik begleitet. Es läutete, Christian stürzte bei uns herein: „I bin abgehaut vom Steinhof, die Polizei ist hinter mir her“ – waren meist die ersten Worte. Wir meinten, er soll sich doch erstmals hinsetzen. Ob er ein Bier will oder einen Wein oder sonst irgendwas. Meist wollte er irgendwelche Drogen. „Was sind das für Pillen, kann ich da eine haben?“ „Tut mir leid, das sind Antibabypillen“. „Törnen die?“
„Nein, die törnen nicht, die sind dafür da, um ….. egal“. Ich hab sie ihm dann weggenommen und versteckt.
Christian gehörte zu den Menschen, die sich nur sehr kurz auf eine Sache konzentrieren konnten. Meist trank er ein halbes Bier, und fing dann zu fragen, was wir jetzt gemeinsam machen konnten. „Gehen wir doch in die U4er“. (so nannte er unsere damalige In-Disco U4 immer). „Ist doch noch viel zu früh“. „Na dann in die Blue Box, oder in die Arena“. „Christian, es ist 5 Uhr nachmittags, da hat noch nichts offen“. Wir mochten Christian. Er war amüsant, manchmal stressig, nie nervig, sehr lieb. „I mog di“ hat er immer gesagt, wenn er sich an mich schmiegte. Aber wenn er weg war, war er weg. Da dachten wir dann auch nicht mehr viel nach über ihn....

Eines Tages kam er wieder vorbei. Hektisches Läuten – „Ich bin abg’haut von Steinhof, die Polizei is hinter mir her“. „Jetzt setz dich halt mal, magst ein Bier?“. „Nein, echt, die sind hinter mir her! Hast du Haarfärbika“. „Haarfärbika“, klar, ich hatte noch ein paar Crazy Colors, Lila. Ich bugsierte ihn ins Badezimmer, setzte ihn auf einen Stuhl und verteilte die Farbe in seinem Haar. 30 Minuten einwirken lassen - stand drauf. In englisch. Nach fünf Minuten: „Hast du einen Augenstift?“. „Augenstift?“. „Ja halt für die Augen, so was schwarzes, was sich die Fraun immer drauf tun“. „Kajal?! Klar“. Ich gab ihm meinen Kajalstift, er begann sich die Augen zu schminken. Immer mehr, immer dicker, bis er sich eine Panzerknackermaske geschminkt hatte. Zufrieden setzte er sich wieder hin: „Jetzt kennt mi kana mehr“.

Manchmal gibt’s Zufälle im Leben. Der Zufall an diesem Tag war, dass ums Eck in der Taborstrasse der Billa überfallen wurde. Großer Polizeieinsatz, sogar durch die normalerweise völlig stille Glockengasse fuhren ein oder zwei Blaulichtwägen, mit lautem Getöse. Christian wurde völlig bleich, sprang auf. Wir versuchten ihn zu beruhigen „das ist doch nicht wegen dir. Da kommen doch nicht gleich so viele Einsatzwägen“. Er glaubte uns nicht. „I muass weg. Hast du andere Hosen, oder einen Pullover“. Ich versuchte ihm zu helfen, allerdings passten ihm meine Sachen nicht. In Panik zog er seine Hose und Schuhe aus und rannte, so wie er war, mit Färbemittel in den Haaren und der Panzerknackermaske im Gesicht in langen Unterhosen ohne Schuhe auf die Strasse.

Danach sah ich ihn nie wieder. Das schlimme: es fiel mir lange Zeit garnicht auf, dass er nicht mehr kam. Ein paar Monate später traf ich eine Freundin. Die war Streetworkerin und betreute auch Christian, wenn er unterwegs war. Sie erzählte mir, dass Christian gestorben ist. Ganz unspektakulär, still. Kurz nach der „Flucht“ aus der Glockengasse musste er sich einer relativ harmlosen Operation unterziehen. Natürlich konnte er auch während seiner Rekonvaleszenz nicht still bleiben. Er ist einfach aus dem Krankenhaus weggegangen, sobald er wieder bei Bewusstsein war. Eine seiner Gewohnheiten war, dass er nie U-Bahn oder Strassenbahn fuhr. Er ging stundenlang und kilometerweit quer durch Wien. Offensichtlich ist er nach der Operation auf seiner Wanderung quer durch Wien in einem Hauseingang an Erschöpfung gestorben…..

Nachtrag:
Letztes Jahr traf ich Peter. Der hat auch in der Glockengasse gewohnt. Wir kamen auf Christian zu sprechen und er erzählte mir: „Das letzte Mal wo ich ihn gesehen habe kam er reingeschossen in die Wohnung mit völlig verschmiertem Gesicht, irgendeinem Zeug in den Haaren, in langen Unterhosen ohne Schuhe. Er rannte, Lisi, sofort in dein Zimmer, angelte sich eine Jean die da rumlag und Schuhe und verschwand wieder – keine Ahnung was das sollte“.


Christian, diese Gedanken sind für Dich. Ich weiss nicht, ob ich nicht vielleicht mehr für dich tun hätte können, wenn ich damals so "erwachsen und verantwortungsvoll" gewesen wäre, wie heute. Vielleicht wärst du dann aber auch gar nicht zu uns gekommen, weil’s dann eben nicht soviel Spass gemacht hätte.


(Inspirated by Supatyp seiner GelbenOverallStory)

Posted by L9 at 16:14 | Comments (3)